Was ist wirksame Zivilcourage?
Ein paar Tipps & Erfahrungen aus dem StattGewalt-Rundgang

Oft wird beklagt, dass die Menschen gegenüber Gewalt und Rassismus im öffentlichen Raum gleichgültig geworden seien. Nach Ansicht des „StattGewalt“-Projektteams steckt hinter dieser verbreiteten Passivität ein Gefühl der Ohnmacht und Resignation: Schnell steigt der Gedanke auf, dass jemand anderer sicher besser wisse, wie man in einer solchen Situation wirksam eingreifen könne.

„Betroffen“ sind wir schon, aber wir vertrauen unseren Strategien zum Eingreifen nicht.

Wenn man Zivilcourage fördern will muss man deshalb nicht nur beim Bewusstsein der Leute ansetzen, sondern auch bei den Fertigkeiten:
Es sollen eigene Ideen und Strategien ausprobiert werden, um auf diese Weise Sicherheit in realen Situationen zu erlangen.

Weiter unten finden Sie hilfreiche Tipps für verschiedene Situationen. Diese Theorie in Praxis umzusetzen wird in den Rundgängen geübt.

Wirksam eingreifen,
ohne sich selber in unnütze Gefahr zu bringen…

Zivilcourage bedeutet nicht, den Helden oder die Heldin zu spielen, sondern erst einmal auf die innere Stimme zu hören, die einem sagt: „Was da passiert ist nicht in Ordnung – und ich könnte, ich sollte etwas tun.“ Es gibt kein Rezept dafür, was in solchen Situationen funktioniert und was nicht. Aber es gibt Strategien, die sich besser bewähren.

  • Beobachten Sie zuerst, um abzuschätzen, wie „heiss“ die Situation bereits ist.
  • Überlegen sie sich auch bereits einen zweiten Schritt – manchmal funktioniert ihre erste Intervention nicht wunschgemäss.
  • Versuchen Sie, ruhig zu bleiben und die Situation zu entspannen.
  • Provozieren, berühren oder beleidigen Sie die Angreifenden nicht.
  • Nehmen Sie Augenkontakt mit dem Opfer auf.
  • Versuchen Sie eher, das Opfer aus der Gefahrenzone zu bringen, als den Täter oder die Täterin zu beruhigen.
  • Machen Sie Zeuginnen und Zeugen auf ihre Situation aufmerksam.
  • Holen Sie Hilfe.

Was tun? Handreichung für unterschiedliche Situationen im Detail

Bei einer Schlägerei, die bereits in vollem Gang ist, ist die Eskalation schon sehr weit fortgeschritten. Um als Zeuge oder Zeugin direkt in den Konflikt einzugreifen, ist die Situation sehr gefährlich. Am meisten können Sie hier ausrichten, wenn Sie Hilfe holen.

Mit einem oder mehreren der folgenden Schritte können Sie in dieser Situation eingreifen:

  • Mischen Sie sich nicht kopflos in die Situation ein. Es hilft niemandem – auch dem Opfer nicht -, wenn Sie auch angegriffen werden.
  • Verständigen Sie den Notruf der Polizei (Nummer 117). Beschreiben Sie möglichst genau, wo wer was macht.
  • Merken Sie sich das Signalement der Angreifenden.
  • Bleiben Sie in der Nähe, um zu helfen, falls die Angreifenden das Weite suchen.
  • Fotografieren oder filmen Sie das Geschen nicht – das zieht eher die Aggression auf Sie!

Treffen Sie den Konflikt an, wenn er noch nicht so heiss ist und sich erst auf der verbalen Ebene abspielt, ist es einfacher und oft ratsam, mit einem oder mehreren der folgenden Schritte direkt in die Situation einzugreifen.

  • Schätzen Sie die Situation ein.
  • Mobilisieren Sie ihren Begleiter oder eine andere Passantin, damit sie sich mit ihnen zusammen der Szene nähern.
  • Bleiben Sie ruhig; ein freundlicher, nicht wertender, aber bestimmter Ton entspannt die Situation.
  • Nähern Sie sich der Szene und stellen Sie eine offene Frage (z.B. „Kann ich helfen?“, „Was ist passiert?“); hören Sie beiden Seiten aufmerksam zu, wenn diese die Frage beantworten. Versuchen Sie, ein ruhiges, konstruktives Gespräch in Gang zu bringen.
  • Bleiben Sie in der Nähe stehen und beobachten Sie die Szene weiter, wenn die Beteiligten Sie nicht beachten.
  • Sprechen Sie andere Personen an, die stehen geblieben sind; eine gemeinsame Intervention wird eher zum Erfolg führen.

Aufgrund einer eigenen Identität oder Gruppenzugehörigkeit angegriffen zu werden (in diesem Beispiel als Frau, aber auch aufgrund seiner Herkunft, seines Alters etc.), kann sehr nahe gehen. Es kann eine*n sprachlos und ohnmächtig machen; gerade dann ist es wichtig, dass man von Aussenstehenden Unterstützung erhält.

Mit einem oder mehreren der folgenden Schritte können Sie in dieser Situation eingreifen:

  • Fragen Sie die belästigte Person, ob sie sich wohl fühlt.
  • Versuchen Sie, die belästigende Person freundlich und bestimmt, in ein Gespräch mit ihnen zu verwickeln. Falls es – wie im gespielten Beispiel – ein Mann ist, der eine Frau belästigt, dann bietet sich diese Möglichkeit eher Männern an als Frauen.
  • Wenn Sie als Mann einer Frau, die belästigt wird, zu Hilfe kommen wollen, dann gehen Sie davon aus, dass es der belästigten Person nicht unbedingt klar ist, dass Sie zu Hilfe kommen. Steigen Sie deshalb mit einer Frage ein: „Kann ich Ihnen helfen?“ oder „Kennen Sie diese Person (den Täter)?“
  • Fragen Sie andere Zeuginnen und Zeugen, ob sie das auch gesehen haben, was die belästigende Person gemacht hat.
  • Sagen Sie laut und deutlich, so dass alle im Tram oder Bus das hören: „Sie mit dem roten Pulli, hören Sie auf damit!“
  • Falls die Belästigung aufhört: fragen Sie die belästigte Person, wo sie aussteigen wird und ob sie wünscht, dass Sie mit ihr aussteigen oder ihr ein Taxi rufen.
  • Achten Sie weiterhin auf die belästigende Person, es besteht die Möglichkeit, dass sie bald versucht, mit jemand anderem „ins Gespräch zu kommen“.

Es gibt zwei Dinge, die das Eingreifen bei dieser Szene besonders schwierig machen:

Zum einen befinden wir uns nicht in einer typischen Eskalationslogik. Die jungen Leute bewegen sich mit vielen ihrer Handlungen in einem Grenzbereich. Bei jedem und jeder von uns ist der Punkt, an dem die Grenze überschritten ist, ein anderer. Einigen wird es schnell zu laut. Andere denken, dass sie das alles nichts angeht, solange nichts Illegales passiert oder nichts kaputt gegangen ist. Wieder andere reagieren, wenn sie denken, dass jemand zu frech wird. Und noch andere schauen aus Prinzip weg.

Zum anderen ist es schwierig abzuschätzen, wie aggressiv diese jungen Leute auf eine Intervention reagieren werden – insbesondere wenn noch Alkohol oder andere Rauschmittel im Spiel sind.

Mit einem oder mehreren der folgenden Schritte können Sie in dieser Situation eingreifen:

  • Eine Intervention macht nur Sinn, wenn Sie sich einen Moment Zeit nehmen können und wollen. Eine schnell hingeworfene Bemerkung im Vorbeigehen ist kontraproduktiv.
  • Bleiben Sie einen Moment stehen und beobachten Sie die Szene; so können Sie die Situation besser einschätzen. Überlegen Sie sich einen Moment, was die Gründe für ein solches Verhalten sein könnten, bevor Sie eingreifen.
  • Warten Sie aber auch nicht zu lange mit der Intervention – es hilft einzugreifen, bevor man sich über die Beteiligten ärgert.
  • Sitzen oder stehen Sie zu den Personen; versuchen Sie, mit ihnen in ein Gespräch zu kommen. Bauen Sie einen offenen, persönlichen Kontakt zu ihnen auf und erziehen oder belehren Sie sie nicht. Dieses Gespräch kann über irgendein Thema sein, Sie brauchen nicht darüber zu sprechen, was die Personen momentan gerade tun. Versuchen Sie eher herauszufinden, was sie beschäftigt, was der Grund hinter ihrem Verhalten ist.
  • Interessieren Sie sich für die Personen – doch spielen Sie dieses Interesse nicht vor. Schenken Sie ihnen ein wenig Aufmerksamkeit. Hören Sie ihnen zu – auch wenn sie nicht mit dem Gesagten einverstanden sind. Wenn man jemandem zuhört, bedeutet das nicht, dass man gleicher Meinung ist.
  • Sprechen Sie die Personen ruhig und höflich an. Siezen Sie sie, auch wenn sie deutlich jünger sind als Sie.
  • Moralische Argumentationen sind kontraproduktiv; sie führen in der Regel zu einer Eskalation des Gesprächs.

Unter Zivilcourage wird das Auftreten gegen die herrschende Meinung verstanden, mit dem der Einzelne – ohne Rücksicht auf sich selbst – soziale Werte oder die Werte der Allgemeinheit vertritt, von denen er selbst überzeugt ist.

Nach Gerd Meyer* ist Zivilcourage „ein spezifischer Typus sozialen Handelns, das sich in spezifischen Situationen, in unterschiedlichen sozialen Kontexten, und Öffentlichkeiten vollzieht, indem eine Person (seltener eine Gruppe) freiwillig eintritt für die legitimen, primär nicht-materiellen Interessen und die personale Integrität vor allem anderer Personen, aber auch des Handelnden selbst, und sich dabei an humanen und demokratischen Prinzipien orientiert.“ (* Gerd Meyer et. al: Zivilcourage lernen.)

In westlich orientierten Gesellschaften zeigt derjenige Zivilcourage, der die Wertorientierungen der jeweiligen Gesellschaften, wie z. B. die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“, offen und ohne Rücksicht auf eigene Nachteile vertritt. Dies erfordert einerseits Mut, andererseits aber auch eine adäquate Einschätzung der Situation sowie der eigenen aktuellen Befindlichkeit.

(* Gerd Meyer et. al: Zivilcourage lernen.)